Erinnern Sie sich noch an meinen Beitrag, in dem ich Sie informierte, dass der Kaliningrader Gouverneur Anton Alichanow die Tore Kaliningrads für Deutsche öffnet? Er öffnet aber nicht nur die Tore für Deutsche, sondern auch für RusslandDeutsche und für viele andere. Zuerst dachte ich, dass dies eine Reaktion auf die negative demographische Entwicklung im Kaliningrader Gebiet ist. Aber dann erfuhr ich, dass es ganz andere Gründe gibt.
Lassen Sie mich zu Anfang einige Worte zur demographischen Entwicklung Kaliningrads sagen, damit bei Ihnen kein falscher Eindruck entsteht.
Insgesamt nimmt die Bevölkerung in Kaliningrad zu. Aber dieser Zuwachs erfolgt leider nicht dadurch, dass sich die Kaliningrader Stammbevölkerung entschließt, Kinder in die Welt zu setzen. Es scheint so, dass die jungen zeugungsfähigen und zeugungswilligen gebürtigen Kaliningrader sich für ein oder höchstens zwei Kinder entscheiden – also im besten Fall nur die einfache Reproduktion der Familie durchführen. Der Zuwachs erfolgt durch Zuwanderung aus anderen Ländern und aus Übersiedlung aus dem russischen Mutterland. Bedingt durch die gegenwärtige Situation hat diese Zuwanderung aber erheblich nachgelassen, so dass der jährliche Netto-Zuwachs (also der Unterschied zwischen Zuwanderung und Abwanderung) schon weit unter 10.000 Personen gesunken ist. Wir merken uns also, dass die Bevölkerung des Kaliningrader Gebietes jährlich wächst, wenn auch in langsamem Tempo.
Der Gouverneur Anton Andrejewitsch schaut aber mit anderen Augen auf die Bevölkerungsentwicklung, denn er hat den Gesamtüberblick über den Zustand der Region. Und er weiß, wie sich die Wirtschaft der Blockaderegion Kaliningrad entwickeln wird und seine Aufgabe ist es, diesen Prozess mindestens politisch zu unterstützen – also alle Voraussetzungen zu schaffen, um die Region für Neubürger interessant zu machen. Die gesetzlichen Voraussetzungen werden jetzt geschaffen. Hierzu gehören finanzielle, materielle und administrative Unterstützungen.
Was Kaliningrad braucht, sind nicht einfach nur viele Neubürger, sondern qualifizierte Neubürger. Wir wissen natürlich, dass wir in Kaliningrad unzureichend Hausmeister und Straßenfeger haben. Wir haben auch keine Verkäuferinnen, wir haben keine Bauarbeiter. Uns fehlen Finanz- und IT-Spezialisten … kurz und gut, es fehlen Arbeitskräfte überall. Damit geht es Kaliningrad aber nicht anders, wie sehr vielen anderen Regionen in Russland. Der gegenwärtige Wirtschaftsboom in Russland hat zu einer historisch niedrigen Arbeitslosenquote geführt. Aber es gibt auch einen historisch großen Bedarf an Spezialisten, um die natürlich jede der 89 russischen Regionen kämpft.
Kaliningrad soll anscheinend zu einer der neuen Industrieregionen Russlands entwickelt werden. Wird alles klug organisiert und umgesetzt, so werden wir in wenigen Jahren auf 15.000 Quadratkilometern hocheffektiver Erde leben und der Wohlstand der Bevölkerung wird sich derart gestalten, dass wir uns über die Verfassungstreue der Kaliningrader Bürger keinerlei Sorgen mehr machen brauchen und frühere Slogan über irgendwelche Königsberger Ambitionen bei den zufriedenen Bürgern nur noch ein müdes Lächeln hervorrufen.
Gegenwärtig wachsen neue Produktionsstätten wie Pilze aus dem Boden – schreibt das Regionalportal „newkaliningrad“. Für diese neuen Werke werden tausende neuer Mitarbeiter benötigt, die alle nicht vorhanden sind. Selbst in den depressiven Kreisen im Osten des Kaliningrader Gebietes, wo bevorzugt die neue Industrie angesiedelt wird und die Arbeitslosigkeit traditionell recht hoch war, gibt es nicht ausreichend Arbeitskräfte – weder qualifizierte, noch ungelernte.
Ende des vergangenen Jahres hatte die Kaliningrader Ministerin für Soziales Angelika Maister eine Statistik veröffentlicht, die man sowohl aus positiv, wie auch als alarmierend bezeichnen kann. Im Kaliningrader Arbeitsamt sind 2.500 Personen erfasst, die keine Arbeit haben. Gleichzeitig sind aber über 14.000 Stellen offen. Logisch, dass sich ein derartiges Verhältnis, wo ein Arbeitssuchender unter fünf Arbeitsplätzen auswählen kann, auch auf die Löhne auswirkt. Weiterhin gibt es die Tendenz, dass die Arbeitnehmer mit beiden Händen mobilitätseingeschränkte Menschen und Rentner einstellen.
In dem Beitrag von „newkaliningrad“ wird erwähnt, dass das neue „Monster“ „Atlantis“ in den kommenden Jahren einen Arbeitskräftebedarf von mindestens sechstausend Mitarbeitern hat. Es handelt sich hierbei zukünftig um den größten Hersteller von Milchprodukten im Kaliningrader Gebiet. Aber auch in der Landwirtschaft wird sich diese Firma an die vorderste Position katapultieren.
Ein nächstes Supergroßprojekt ist das Lithium-Werk, welches anstelle des ehemals geplanten Atomkraftwerkes im Nordosten des Kaliningrader Gebietes errichtet wird. Hier werden mindestens 900 hochqualifizierte Mitarbeiter benötigt, die den gesamten russischen Markt mit Batterien und Akkumulatoren versorgen sollen.
In Tschernjachowsk wird ein Werk für Silizium- und Photovoltaik-Wandler errichtet. 750 Arbeitsplätze entstehen hier. Noch ist unklar, woher diese neuen Mitarbeiter kommen werden. Zeit ist kaum noch vorhanden, denn die Werke sollen alle im Jahre 2024 und 2025 starten.
Weitere Produktionsstätten entstehen in den Kaliningrader Industrieparks, wo ebenfalls Arbeitskräfte benötigt werden und niemand weiß bisher, woher nehmen.
Um das Kaderproblem zu lösen, hat die Kaliningrader Kant-Universität spezielle Studiengänge eingerichtet, die die Fachleute ausbilden soll, in der Hoffnung, dass die Firmen so günstige Arbeitsangebote machen, dass diese Absolventen in der Region bleiben.
Einige Firmen haben ebenfalls begonnen, für die zukünftigen Mitarbeiter moderne Wohnhäuser zu errichten. Logisch, dass man erwarten kann, dass auch die notwendige Infrastruktur – also Kindergärten, Schulen, Supermärkte, Tankstellen, Hotels usw. entwickelt wird. Und wieder setzt die Endlos-Schraube an, denn für diese Infrastruktur werden ebenfalls Mitarbeiter benötigt, die in Kaliningrad nicht vorhanden sind.
RosAtom, die das neue Lithium-Werk errichtet, werden das dort vorhandene Sportstadion rekonstruieren, um, neben Neubauwohnungen, weitere Anreize für neue Mitarbeiter zu geben, hierher umzusiedeln.
Die Region selber tut ebenfalls einiges, um Arbeitskräfte für die neue Industrialisierung des Gebietes zu erhalten. So soll ein neuer Campus für 3.500 Studenten auf der Basis der bereits existierenden Schule für Informationstechnologien und Bauwesen aufgebaut. Allerdings liegt wohl noch keine Zeitplanung vor, aber Zeit ist auch schon knapp geworden, denn die Kader werden bereits morgen gebraucht.
Ein weiterer Moment, der den neuen Industrieunternehmen die Anwerbung von Kadern erschwert ist, dass auch der Bereich des Tourismus sich in Kaliningrad äußerst intensiv entwickelt. Hier können Arbeitssuchende sofort Arbeit finden und müssen nicht darauf warten, ob sich die neue Industrialisierung des Kaliningrader Gebietes für sie als interessant herausstellt. Dazu kommt, dass ein Barmann oder ein Kellner in einem Restaurant gut und gerne mit 100.000 Rubel im Monat nach Hause geht. Ob die neuen Industrieunternehmen derartige Löhne zahlen, scheint nicht ganz real zu sein. Selbst wenn der junge Mensch jahrelang die Schulbank gedrückt hat, um Ingenieur oder irgendein Fachspezialist zu werden – Geld ist immer ein überzeugendes Argument, die Richtung zu wechseln und das im Studium erworbene Fachwissen zu vergessen.
Anscheinend aber haben die neue Industrie und die in Kaliningrad anwesenden Universitäten gemeinsame Planungen. So wollen die Industrieunternehmen mit den Studenten Verträge abschließen und diese zu sich, noch während des Studiums, zu Praktika einladen. Wer Interesse und gute Leistungen zeigt, soll auf einen gut dotierten Arbeitsplatz nach erfolgreichem Studium rechnen können. Und da der Absolvent seine Firma bereits kennt, ist ein effektiver Start in das Berufsleben garantiert.
Und dann gibt es noch eine Idee der Kaliningrader Gebietsregierung, wie man zu Fachkräften kommen kann. Sie erinnern sich an den Aufruf des Kaliningrader Gouverneurs an die Deutschen? Nun, jetzt wissen wir es genau: Er meinte in erster Linie die RusslandDeutschen. Aber ob diese sich von den Angeboten in Kaliningrad anlocken lassen? Rein materiell und finanziell dürften sich mögliche Rückübersiedler wohl kaum verbessern. Einzig und allein der Wunsch, dem Land zu entfliehen, welches traditionelle Werte nicht mehr achtet, ist eine Chance, zu Fachkräften zu kommen. Eine massenhafte Abwanderung aus Deutschland nach Kaliningrad wird es wohl nicht geben – glaube ich.
Autor des Beitrages ist „Baltische Welle“. Vielen Dank für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit. Tschüss und Poka aus Kaliningrad.