Bekanntlich ist Salzburg die Bühne der Welt. Und zwar eine teure Bühne. Besonders für eine alleinerziehende Ausländerin ohne stabiles Einkommen.
Der Hunger nach Kunst muss jedoch gestillt werden. Deswegen gehe ich jedes Jahr, wenn es sich zeitlich ausgeht, zum Kapitelplatz im Herzen Salzburgs.
Da können die Salzburger und Salzburgerinnen der Mittelschicht auf der großen Leinwand die Opern der vergangenen Festspiele genießen. Im vorigen August hatte ich es auf Wozzeck abgesehen.
Seit fast 10 Jahren studierte ich krampfhaft Germanistik, indem ich meine ausländischen Komplexe zu überwinden und das Studium samt dem Kind, dem untauglichen Mann und gelegentlichen Jobs unter einen Hut zu bringen versuchte.
Deswegen war ich auf dieses theatralische Kunstwerk ziemlich heiß. Was ich jedoch von meinem Kleinen nicht behaupten konnte.
Wenn wir beide zusammen sind, richte ich mich normalerweise nach seinen Wünschen und Vorlieben, in der Hoffnung irgendwann den Orden als Supermutter zu erhalten.
Lange hatte es gedauert, ihn zu überreden. Selbstverständlich musste ich ihm ein Eis als Kompensation für seine Qualen versprechen.
Wir setzten uns in die erste Reihe. Da wird mein kleines Teufelchen die anderen Zuschauer wohl am wenigsten stören, dachte ich. Ein paar Stühle weiter saßen zwei Frauen, die auf den ersten Blick ganz friedlich wirkten.
Die Werbung war zu Ende. Die Vorstellung begann. Die Oper war brillant. Mein Sohn blieb relativ ruhig und zeigte sogar einiges Interesse. Ab und zu stellte er (leider nicht sehr leise) solche unschuldigen Fragen wie Was hat der Doktor auf dem Kopf?“.
Nach der ersten Frage drehte sich eine der zwei in derselben Reihe sitzenden Frauen uns zu. Das hat mir nicht gefallen. Nach der zweiten Frage schaute sie uns wiederum an.
„Stören wir sie? „, wandte ich mich genervt an die unruhige Dame.
Die sonnengebrannte Dame gab von sich, dass ihrer Meinung nach die Oper für mein Kind uninteressant sei.
Langsam begann die Wut in mir zu steigen. Wir schauten weiter auf das Stück. Die Aufführung fand ich noch immer extrem spannend.
Mein Sohn produzierte weitere Fragen.
„Willst du nicht um den Brunnen herumlaufen?„ fragte ich ihn verzweifelt. Er wollte nicht.
Nach der dritten Frage seitens meines Kindes bat die mitleidige Frau meinem Sohn ein Stück geschmolzene Schokolade an. Er verschluckte die halbflüssige Substanz und wischte die Hände an der Hose ab. Nach der vierten Frage warf sie erneut ihren Blick auf uns.
Da explodierte ich.
Ich griff das Kind an der Hand und wechselte die Reihe. Die gute Frau von Salzburg flüsterte etwas ins Ohr ihrer Nachbarin.
Mein Sohn fragte weiter. Die Frau drehte sich wieder um. Vermutlich in der Absicht mein verzerrtes Antlitz für immer in ihrem Gedächtnis zu behalten.
Nachdem das kleine Opfer begonnen hatte, mit einer schweren Kette zu poltern, mit der die Stühle zusammengehalten waren, erlitt ich einen Nervenzusammenbruch.
Ich war überzeugt: das ganze Publikum schaut uns zu und verurteilt mich als Kinderquälerin.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mein schweres Verbrechen wieder gut zu machen. Ich sprang auf, nahm den Sonnenschein an der Hand und ging Richtung Eisgrotte.
Drei Teile haben wir doch geschafft, tröstete ich mich. Und das Ende kenne ich sowieso.
Kaltes Eis schleckend trotteten wir langsam heim. Der Abend war bezaubernd, die Luft roch nach Salzach und ein wenig nach Bosna.
Einige Tage später begab ich mich zum Freibad, um mich an dem heißen Tag ein bisschen abzukühlen. Und wem begegnete ich am Eingang?
Ja. Das war sie. Die arme Opernliebhaberin, die, anstatt das theatralische Meisterwerk zu bewundern, über gute zwei Stunden zu verhindern versuchte, dass mein Kind vor Langweile stürbe.
Wir grüßten einander verblüfft und gingen getrennte Wege ins Bad.